Ein Künstlernachlass
Der Kirchentellinsfurter Gemeinderat hat am 29. März 2012 einstimmig die Annahme des künstlerischen Vermächtnisses von Günter und Elisabet Hildebrand beschlossen. Es handelt sich um das umfassende Œuvre eines im Ort längst verwurzelten Künstlerpaars aus sieben Jahrzehnten. Der in Kirchentellinsfurt aufbewahrte künstlerische Nachlass besteht aus Malerei auf Holz und Leinwand, Arbeiten auf Papier sowie bemalten Objekten und umfaßt etwa 1300 einzelne Werke. Mit den darüber hinaus vorhandenen Skizzenbüchern, Kalendern und losen Skizzenblättern sowie den von Günter Hildebrand handbemalten Keramiken sind es noch weit mehr. Der gesamte künstlerische Nachlass wurde zwischenzeitlich von Johannes Krause im Rahmen seiner Magisterarbeit fotografisch dokumentiert und kunstgeschichtlich eingeordnet.
Mit einer dauerhaften Ausstellung von Werken im neuen Rathaus, die durch die Präsentation wechselnder Schwerpunkte ergänzt werden soll, macht die Gemeinde Kirchentellinsfurt das Werk von Günter und Elisabet Hildebrand seit dem Sommer 2014 der Öffentlichkeit erneut zugänglich.
Günter und Elisabet Hildebrand
Günter Hildebrand (1911-1994) war ein heimatvertriebener Künstler, der als Folge des Zweiten Weltkriegs eine frühere Existenz und sein in Breslau und Dresden entstandenes Frühwerk hinter sich lassen und 1946 in Tübingen völlig neu anfangen mußte. Doch wie er rückblickend feststellte, konnte erst nach 1969 in Kirchentellinsfurt sein „zweites Leben“ beginnen.
Elisabet Hildebrand (1923-2011) lernte ihren Mann während des Studiums der Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte kennen und wurde von ihm angeregt zu malen. Sie erinnert sich: „Am Anfang stand eine Wette: … Dabei verstieg sie sich zu der Behauptung: 'Es ist sehr viel leichter, ein Bild zu malen, als ein ordentliches Gedicht zu schreiben.' Man machte die Probe aufs Exempel, und Elisabet Hildebrand pinselte im Nu ein paar kleine Aquarelle, ließ die Farbe ein wenig verlaufen und präsentierte sie ihrem Mann. Just in diesem Moment sei der befreundete Tübinger Künstler Gerth Biese zu Besuch gekommen. Gerade auf der Suche nach Exponaten für eine Weihnachtsausstellung in der Tübinger Universitätsbibliothek, habe er erstaunt gefragt: 'Wer hat das gemacht?' Auf Elisabet Hildebrands schüchterne Antwort 'ich' habe Biese kurzerhand erwidert: 'So, das stellen wir gleich mit aus.'“
Elisabet Hildebrand wurde Zeichenlehrerin an der Joos-Weiss-Grundschule und später Deutschlehrerin am Friedrich-List-Gymnasium in Reutlingen. Ihre eigene Kunst profitierte dabei von der naiven Malerei der Kinder.
Günter und Elisabet Hildebrand erwarben 1969 ihr eigenes Haus an der Kirchentellinsfurter Neuen Steige. Man kann durchaus annehmen, dass sie sich nach Krieg, Vertreibung und den unsicheren Wohn- und Arbeitsbedingungen der Nachkriegsjahre eine Altersicherung, einen Ruhesitz ersehnten. Die malerische Lage Kirchentellinsfurts am Hang ist wie geschaffen, um am Fenster den Blick das Neckartal entlang schweifen zu lassen. Mehrere dutzend Mal hat Hildebrand den Fensterblick über das Neckartal in Richtung Tübingen und den Blick zum Einsiedel skizziert und gemalt. Auch der Baggersee im Tal spielte fortan eine große Rolle in seinem Leben. Regelmäßig ging er zum Skizzieren und Aquarellieren, aber auch zum Baden und Angeln hinunter an den See. In seinen Tagebüchern hat er akribisch die geangelten Fische vermerkt und ihre ergiebigsten Fangorte kartiert.
Dresden
Günter Hildebrand hat die Dresdner Akademie der Bildenden Künste zur Zeit des Nationalsozialismus ab 1933 besucht und die strenge Zeichenschule Richard Müllers durchlaufen. Als Einzelschüler Wilhelm Rudolphs nahm er noch die letzten Einflüsse von Expressionismus und Neuer Sachlichkeit auf. Doch aus politischen Gründen wurde seine Ausbildung schon 1936 vorzeitig unterbrochen: Hildebrand galt als „politisch unsicheres Element“; er sollte zum Straßenbauer umgeschult werden. Seine Bilder wurden nicht mehr zu Ausstellungen zugelassen. Nur mit Mühe konnte er bis zu seiner Einberufung 1939 weiter in Breslau künstlerisch tätig sein. Doch auch sein Kriegseinsatz in West- und Osteuropa konnte ihn nicht davon abhalten, weiterhin die Orte seiner Stationierung und seine Kameraden zu zeichnen.
Mit dem Erleben des Zweiten Weltkriegs, der Krisen zweier Nachkriegszeiten und dem Verlust des Frühwerks weist Hildebrands Biografie einige Berührungspunkte mit den Malern der „verschollenen Generation“ auf. Hier läßt sich auch ein Grund finden, warum Hildebrand kein Akteur auf der nationalen Bühne werden konnte und wollte.
Das Werk Hildebrands spiegelt seine Biografie in einer ausgesprochen widersprüchlichen Wandlungsfähigkeit wider. Es ist von den äußeren Zäsuren auch im Inneren zerrissen. So zeigen die Arbeiten der Nachkriegszeit Hildebrands Rezeption der als „entartet“ bezeichneten Kunst der zwanziger Jahre und einen allmählichen Umschwung vom expressiven Realismus zur abstrakten Nachkriegsmoderne. Dabei entwickeln sich aus den grafischen Prägungen eine Vielzahl eigenständiger Bildkonzepte, deren verbindendes Element die dunkle Linie der Tuschezeichnung bleibt.
Die Künstlergruppe „Ellipse“
Als Mitglied der „Notgemeinschaft Tübinger und Reutlinger Künstler“ und der Künstlergruppe „Ellipse“ 1951-1965 war Hildebrand entscheidend am Wiederaufbau des kulturellen Lebens in Tübingen beteiligt. Seine Arbeiten dieser Zeit erzählen von der künstlerischen Auseinandersetzung mit Picasso, Matisse, Klee und Beckmann sowie mit Art Brut und Informel. Auf Parisreisen und mit Unterstützung des Landeskonservators Dr. Rieth fand Hildebrand Anschluß an die internationale Moderne.
In den fünfziger Jahren wohnten Günter und Elisabet Hildebrand in einem ehemaligen Feldhüterhaus im Gewann Hellerloch vor der Tübinger Weststadt. Und obwohl im Mietvertrag vermerkt war, dass „zur Zeit der Obsternte … der gesellschaftliche Verkehr einzuschränken“ sei, wurde das abgelegene Hellerloch zum beliebten Treffpunkt der Künstler der „Ellipse“. Die damals noch weitgehend unbebaute Hügellandschaft vor dem Schönbuch wurde zu Hildebrands alltäglichem Mont Sainte-Victoire. An ihr suchte und entwickelte er seine abstrahierte Formensprache.
Höhepunkte der Tübinger Zeit sind die Ausstellung Hildebrands im Tübinger Kunstverein 1958 und die Ausstellungen der „Ellipse“-Künstler im Württembergischen Kunstverein in Stuttgart.
Spätwerk in Kirchentellinsfurt
Ein überraschend eigenwilliges, figürliches Spätwerk schließt sich in der Kirchentellinsfurter Zeit an. Durch Hildebrands Rückzug aus dem Tübinger Kunstleben hat es monolithischen Charakter und läßt sich nicht leicht an Kunstentwicklungen anbinden. Dennoch weist es eine Parallelität mit dem kritischen Realismus in der südwestdeutschen Malerei der 1970-er Jahre auf. Hildebrands lebenslange Beschäftigung mit der Landschaft erhält hier bei seinem politischen Kampf gegen das Verkehrsprojekt B27 als SPD-Mitglied und auf Reisen eine weitere Intensivierung: Seine zärtliche Vorliebe für das bedrohte Alte bezeichnet Hildebrand als „dokumentarisches Zeichnen“. Daneben entsteht auf Grundlage seiner karikaturesken Zeichnung eine Werkgruppe verrätselter Arbeiten, die sich im Rückgriff auf Kunstströmungen des 20. Jahrhunderts mit technik- und zivilisationskritischen Themen auseinandersetzt. Sie profitieren von Hildebrands Vertrautheit mit dem neusachlichen Verismus eines Otto Dix.
Das Gesamtwerk Günter Hildebrands kann als Spiegelung der Kunstentwicklungen im 20. Jahrhundert, besonders der Abstraktionsdiskurse gedeutet werden. In Parallelität zur Dogmatik der frühen documenta-Ausstellungen hat es Einflüsse von Impressionismus, Kubismus, Surrealismus, abstraktem Expressionismus und nicht zuletzt der Neuen Sachlichkeit aufgenommen und in fruchtbare Beziehung gesetzt. Zuletzt waren seine Arbeiten im Künstlerbund Tübingen, in der Reutlinger Galerie Haus Geiselhart und im Tübinger Stadtmuseum zu sehen.
Ihr Ansprechpartner:
Johannes Krause, M.A.
Telefon: 0172 8321948
E-Mail: johannes.krause@mail.com
Webseite: jk.einundausfaelle.de